Dienstag, 29. Mai 2018

Warum ich „talentiert“ nicht für ein Kompliment halte. Oder: Meine Nähkünste im Wandel der Zeit.

Ein kleiner Rant am Rande. Garniert mit Bildern aus meiner Näh-Anfangszeit, damit jeder sieht, dass wir alle nur mit Wasser kochen :)


Beim Nähen gibts viel zu lernen. Einerseits die Verarbeitungstechniken. Aber auch, wie man die Passform anpasst. Welche Farben, Formen und Details am besten wirken an der eigenen Körperform. Welcher Stoff für welchen Schnitt geeignet ist, welche Stoffe kombiniert gut aussehen und was man besser bleiben lässt. Welche Farben und Muster harmonieren. Und auch: Kreativität. All das konnte ich nicht von Anfang an (und natürlich bin ich auch heute nicht perfekt, aber besser als früher). Einige Beweise dafür seht ihr auf den Fotos in diesem Beitrag - leider sind die meisten Fotos (und Nähstücke) von damals verlorengegangen. Die teils schlechte Bildqualität bitte ich zu entschuldigen; die Bilder sind ziemlich alt. 

Kennt ihr das, wenn man beim Betrachten sehr alter Fotos von sich selbst eine eigenartige Mischung aus Selbst- und Fremdscham spürt ...? 

Ein Vergleich: Den oberen Reißverschluss habe ich um 2006 eingenäht, den unteren 2017. Eigener Schnitt.

Öfter mal lese ich in Facebook-Kommentaren, unter Blogposts oder bei Instagram Aussagen einer bestimmten Art:

„Du bist ja so talentiert!“
"Ich wünschte, ich hätte nur halb so viel Talent!"
„Schaut mal, was die/der talentierte XY wieder gemacht hat!“

Rock, 2004: Mod. 125 aus der Burda 06/2004, mit einer blauen "Extralage" - die Bildqualität verdeckt gnädig (leider und zum Glück ;)), wie unsauber und krumpelig diese Lage und der Bund genäht sind.

Klingt erstmal nett und freundlich, oder?
Ist garantiert auch nett und freundlich gemeint.

Aber:

Was bedeutet denn „talentiert“ eigentlich? Klar – einerseits „fähig zu besonderen Leistungen“. Aber andererseits auch: „Es fällt jemandem leicht“. Und hier horche ich auf.
Oft schwingt Folgendes mit oder wird sogar explizit ausgesprochen:
„Ich wünschte, ich könnte auch so toll nähen/sticken/malen wie du!“Oder: "Ich bewundere alle, die nähen können!"
Da fühle ich mich geneigt zu rufen: „Dann lern’s doch!“

Ein Rock um 2004/2005, eigener Schnitt. Einer meiner ersten - sieht ganz ok aus? Von Weitem ja ...

Statt Bund: Oben umgeschlagen und mittelgleichmäßig angenäht. Vom RV habe ich kein Foto.

 Denn die Zuschreibung von „Talent“ fördert die Vorstellung, dass derjenige seine Fähigkeiten „einfach so“ hat. Sind ihm zugeflogen, er muss sie nur anwenden, es geht wie von selbst.
Nur: Das ist nicht wahr. Hinter großen Fähigkeiten stecken viele, viele, viele Stunden Übung. Die sieht man natürlich nicht, wenn man das Endergebnis betrachtet. Aber einfach nur zu sagen „Oh, was für ein Talent“ negiert all die Zeit, die Arbeit, die Mühe, die jemand ins Erlernen einer Fähigkeit gesteckt hat, all die Schwierigkeiten, Probleme, Frust und Fehlversuche. Weil es suggeriert, der Erschaffer hätte sich einfach hingestellt und etwas Tolles „gezaubert“ (sagte ich schon, dass ich den Ausdruck „Zaubern“ für das Produzieren von irgendwelchen Dingen hasse? Selbermacher sind keine Hauselfen!). "Talent" hat man sich nicht erarbeitet!

Kleid, 2006. Farb- und Stoffkombi sind gewöhnungsbedürftig. Mod. 126, burda 7/2006

Einem talentierten Menschen wird das Lernen etwas leichter fallen und er wird in den höchsten Rängen seiner Sparte ein wenig weiter kommt als jemand ohne Talent. Talent ist ein günstiger Körperbau für eine Sportart, etwas gelenkigere Finger als der Durchschnitt, ein etwas besserer Blick für Formen und Farben - Talent ist aber nicht Können. Der talentierteste Mensch, der nicht übt, wird einem untalentierten Mensch, der jahrelange Mühe ins Erlernen und Üben einer Fähigkeit steckt, hoffnungslos unterlegen sein. 

Kleid, um 2006, eigener Schnitt. Oben Smokstoff, unten Baumwollstoffe. So richtig schön sah es nur in meinem Kopf aus ...

Mein erster Versuch, die Passform zu verbessern: Abgesteckte Abnäher. Krumm und schief.
 
Auch Hermine Granger ist nicht einfach nur klug, sondern steckt extrem viel Zeit und Mühe ins Lesen und Lernen. Sie wird öfter talentiert genannt. Sie wertet sich daraufhin ab, wobei sie sagt, ach, Bücher und Fleiß, mehr steckt nicht dahinter. Dabei ist der Fleiß das wirklich Wertvolle. Talent ist nur, was man draus macht, das zaubert nicht von allein Superfertigkeiten.

Um 2009. Bessere Kamera oder bessere Fotografin? Bessere Stoffwahl jedenfalls nicht - der Stoff trägt furchtbar auf, die Passform ist deutlich verbesserungsbedürftig. Mod. 10 "Cozy Pinnie", Ottobre 5/2009


Es ist wirklich nett, Menschen zu loben für ihre Leistungen, auch für ihre Selbermach-Ergebnisse! Aber bitte: Lobt ihr Können, ihre Ideen, ihre Sorgsamkeit bei der Verarbeitung. Und nicht ihr "Talent". 
Lobt Menschen für das, was sie machen, nicht für das, was sie sind.

Bonus-Foto von Hana - die Bluse ist eine umgenähten Billig-Kaufbluse und ich hatte auch so eine:


Man beachte die grandiose Passform :D

(Ach ja: Ich kann weder sagen, warum auf den Fotos überall Zeug rumsteht - eigentlich war ich schon als Teenie sehr ordentlich - noch, warum ich immer barfuß bin. Ehrlich, ich besaß damals schon Socken!)

Verlinkt bei Creadienstag und HandmadeonTuesday.

Lg
Nria

3 Kommentare:

  1. Du hast ja so schrecklich Recht!
    Ich habe ein gewisses Talent zum Zeichnen, das gebe ich zu, aber beim Nähen/Häkeln/Handarbeiten ist auch bei mir weit mehr Übung und Geduld. Wie vermutlich bei jedem - man muss es lernen, das kann man nicht von Natur aus.
    Übrigens finde ich deine bzw. eure Frühwerke ganz wacker. Vermutlich, weil ich mich noch an meine erinnere - zum Glück hatte ich ganz am Näh-Anfang keine Digitalkamera und konnte das Elend nicht festhalten... ^^

    AntwortenLöschen
  2. Horatia_Aubrey29. Mai 2018 um 12:47

    Ihr habt ja so recht! In der bald schließenden Herr-der-Ringe-Film.de-Fotoganerie habe ich gestern erst Fotos von mir von 2002 in meiner allerersten Gewandung wiedergefunden und mich wieder daran erinnert, was für eine zusammengepfuschte Katastrophe der Verschluss war (der zudem auch dauernd wieder aufging...). Ganz zu schweigen von irgendwie hingefriemelten Jackenkrägen, Burda-Fails die am Model toll aussahen aber an mir wie ein Kartoffelsack, mangelnder Anpassung und so weiter. Nähen lernen ist ein kontinuierlicher Prozess und eigentlich nie abgeschlossen. In diesem Sinne: Sew on and prosper!

    AntwortenLöschen
  3. Danke für diesen Beitrag!
    Das gibt mir als Nähanfängerin einen guten Motivationsschub. (Ja, ich hab endlich angefangen zu nähen! Hurra!)
    Als ich vor einigen Jahren angefangen habe zu stricken, fiel mir das Stricken an sich leicht. Mein allererstes Strickprojekt reicht handwerklich durchaus an das heran, was ich heute so produziere.
    Allerdings hatte ich null Ahnung was mir so stehen könnte. heute z.B. weiß ich: Grün steht mir wirklich phantastisch. Aber eben Grüntöne mit einem Blauanteil. Gelbgrün sollte ich eher meiden. Nun rate mal, welche Farbe ich "damals" fast ausschließlich verarbeitet habe?
    Und seien wir mal ehrlich: Bei dem, was man heute so an Klamotten kaufen kann - wer hat da noch wirklich Ahnung von Schnitten und Anpassungen? Gefühlt passen Kaufklamotten doch nur in den seltensten Fällen vernünftig.
    Ich selber musste mir das mühsam durch Versuch und Irrtum beibringen - und bin da noch lange nicht in der "Meisterklasse" angelangt.

    LG

    AntwortenLöschen