Dienstag, 18. April 2023

"Warum passt mein Kleidungsstück nicht?" - Fehlerquellen bei der Schnittmuster-Größenwahl


 Ich stoße ziemlich oft auf Aussagen wie:

  • "Die Maßtabelle stimmt nicht!"
  • "Das Shirt fällt riesig aus, das nächste nähe ich mindestens zwei Nummern kleiner!"
  • "Das Kleid ist viiieeel zu groß geworden!"
  • "Obwohl ich mich an die Maßtabelle gehalten habe, ist es zu eng!"

Was ist da schiefgelaufen?
 
Die Größenwahl ist - neben der richtigen Stoffwahl für ein Projekt - eine der wichtigsten Faktoren für den Näherfolg, aber oft gar nicht so einfach. Denn es gibt jede Menge Stolpersteine.

1. Fehleinschätzung des Kleidungsstücks - die m.M.n. allerhäufigste Ursache!

Sprich, man hat sich das Schnittmuster schlicht eng anliegender (oder lockerer) vorgestellt, als der Designer es geplant hat.
Woran ich das festmache? An den vielen, vielen Leuten, die ein (gemäß der Herstellerbilder) genau richtig sitzendes Teil präsentieren, das sie als „viiieeel zu weit!!“/“mindestens zwei Nummern zu groß!“ bezeichnen. Da liegt schlicht eine falsche Vorstellung davon vor, wie das Teil sitzen soll.
Es braucht einfach Übung, um zu erkennen, wie locker oder eng ein Teil an einem selbst sitzen soll, wenn man es nur an einem Model sieht, das womöglich eine ganz andere Figur hat. 
Besonders oft passiert es bei Oversized-Schnittmustern. 
Auch mir passiert es auch nach 20 Jahren noch gelegentlich, dass ich das falsch einschätze. Liegt auch daran, dass Hersteller gern besonders vorteilhafte Fotos verwenden, die ein Kleidungsstück aber nicht immer ideal präsentieren - manchmal wird auch noch auf den Bildern geschummelt, z.B. mit Wäscheklammern. Da hat der Betrachter keine Chance mehr, den Sitz richtig zu erkennen.
 
2. "Technische" Fehler (eigentlich vermeidbar, kommt aber vor):
  • Schnittmusterfehler: Fangen wir mit dem Offensichtlichsten an. Es kommt vor, dass man einen PDF-Schnitt nicht maßstabsgerecht gedruckt hat (immer auf "100%"/"tatsächliche Größe" einstellen, niemals auf "auf Seitengröße anpassen"!) oder beim Abpausen in der Größe verrutscht ist. Und manchmal ist ein Teil auch falsch zusammengenäht. Man sollte diese Fehler zuerst ausschließen, bevor man irgendetwas anderes versucht!
  • Nahtzugabe nicht beachtet: Manchmal fügt man versehentlich Nahtzugabe zu, obwohl bereits welche im Schnitt enthalten ist, oder man trifft nicht auf die Nahtlinie, sondern näht mit etwas mehr oder weniger Nahtzugabe, als man zugeschnitten hat. Auch wenn man nicht ganz exakt zuschneidet, kann sich Mehr- oder Minderweite einschmuggeln. Bei einem simplen Oberteil mit zwei Seitennähten macht es noch nicht viel aus, wenn man z.B. mit 7 mm Nahtzugabe näht statt mit 1 cm, die enthalten sind - pro Seite sind das 6 mm zuviel, also 1,2 cm Mehrweite insgesamt. Bei einem Rock mit 8 Bahnen dagegen summiert sich das auf fast 5 cm Unterschied.
  • Der Vollständigkeit halber: Wirklich unpassendes Material wie Webware für einen engen Jerseyschnitt oder unelastischen Jeans für einen Stretchjeans-Schnitt zu verwenden geht natürlich schief.
3. Falsches Anwenden der Tabelle:
  • Falsches Messen. Man misst immer über Unterwäsche, auch bei Jackenschnittmustern. Dann mit der Körpermaßtabelle vergleichen, nicht mit der Fertigmaßtabelle. Das Maßband sollte anliegen, aber weder superstraff gezogen werden noch locker sitzen.
  • Vergleichen der eigenen Körpermaße mit der Fertigmaßtabelle: Seine Körpermaße muss man immer mit der Körpermaßtabelle vergleichen. Die Fertigmaßtabelle enthält die Maße des fertigen Kleidungsstück inklusive Bewegungs- und Bequemlichkeitszugabe und kann nur zum Vergleichen mit fertigen Kleidungsstücken verwendet werden (oder z.B., indem man das Maßband entsprechend locker um den Körper legt, um zu sehen, wie das Teil sitzen wird).
  • Fixierung auf eine einzige Größe: Viele Leute schreiben all ihre Maße auf und nehmen dann die größte Kleidergröße, die sie gemessen haben. Das funktioniert aber oft nicht: Ich brauche z.B. an der Taille eine größere Nummer als an der Hüfte (Apfeltyp), andere Frauen dagegen müssen an der Hüfte eine größere Nummer nehmen als an Taille und Brust (Birnentyp). Man nimmt dazu einfach auf dem Schnitt an der jeweiligen Stelle die jeweilige Größe und verbindet sie harmonisch.
  • Die Tabellen der meisten Hersteller enthalten nur ganz wenige Maße und das sind Rundmaße, die keine Rücksicht darauf nehmen, wie die Weite verteilt ist. Wer z.B. viel Oberweite hat, nimmt dann oft eine größere Größe, die Oberweite passt dann gut rein und überall sonst ists zu weit. Bei solchen Problemen braucht es spezielle Anpassungen, für die der Schnitt eingeschnitten und auseinandergezogen wird, z.B. FBA (Full Bust Adjustment, Anpassung für große Oberweite). Es lohnt sich sehr, sich damit auseinanderzusetzen.
4. Stoffwahl:

Welcher Stoff für welches Projekt geeignet ist und ob man ggf. dann eine andere Größe braucht als laut Maßtabelle vorgesehen, ist m.M.n. eine der schwierigsten Dinge beim Nähen. Wohlgemerkt, ich rede hier nicht davon, einen Jerseyschnitt aus Webware zu nähen oder umgekehrt, sondern davon, dass selbst ein- und dieselbe Stoffart total unterschiedlich ausfallen kann in vielen Aspekten, und wenn man eine andere Stoffart nimmt, wird es noch weitaus diverser. Was aus Stoff 1 perfekt sitzt, kann aus Stoff 2 total danebengehen. Sweat und Jersey können kaum oder sehr stark dehnbar sein, und selbst Webware ohne Elasthan ist manchmal fest gewebt, manchmal ganz locker und nachgiebig. 
Schaut euch den Stoff also ganz genau an: Wie dehnbar ist er im Vergleich zu anderen Stoffen dieser Art? Wenn Webware: Mit Elasthan oder ohne? Locker gewebt, sodass das Gewebe nachgibt, wenn man leicht dran zieht, oder superfest? Fließend oder mit viel Stand?
 
5. Körperform:

Manche Kleidungsstücke passen zwar von der Größe, aber nicht zum Körper und sehen deshalb doof aus. Ich habe z.B. einen G-Cup und einige Kleiderstile sehen an mir zeltmäßig aus, auch wenn die Größe genau passt, weil der Stoff einfach irgendwo hinmuss ...
 
 
Das sind jede Menge Stellschrauben, bei denen Dinge schiefgehen können. Besonders wichtig ist Punkt 1 – wenn man den falschen Schnitt nimmt (z.B. ein lockeres Teil, wenn man es eigentlich eher figurnah haben will), ist man mit dem Ergebnis garantiert unzufrieden. Aber der Rest ist ebenfalls wichtig und es hilft einfach nur Übung und Information. Fehlschläge wird es aber wohl immer geben, das gehört einfach zum Lernprozess dazu.

Was kann man jetzt dagegen tun?

  • Bei den technischen Fehlern ist es offensichtlich: Aufpassen, dass der Schnitt auf 100% gedruckt ist, man die richtige Größenlinie abgepaust hat, die Nahtzugabe beim Nähen einhält und die Stoffempfehlung beachtet.
  • Richtig messen und den Schnitt anpassen - man kann auch den Schnitt selbst ausmessen, um etwa zu sehen, wie weit Vorder- und Rückenteil separat sind (anstatt nur aufs Rundmaß in der Tabelle zu schauen).
  • Sehr gut aufs Modellbild schauen - erfordert leider Zeit und Übung. Aber oft reicht es schon, genau hinzuschauen: Wie weit ist das Teil an der Taille? Wo sitzen die Schulternähte? Wie eng liegt es an der Hüfte an? Ist es ein fließender oder ein eher steifer Stoff? Nicht nur einen flüchtigen Blick wagen, sondern sich Zeit nehmen, um das Modell zu beurteilen. 
  • Genauso sorgfältig den vorgesehenen Stoff begutachten: Was sagt die Stoffempfehlung? Wenn man von ihr abweicht, sollte man genau wissen, was man tut. Das luftig leichte Sommerkleid wird ein formloser Sack, wenn der Stoff zuviel Stand oder Gewicht hat. 
  • Nach Näh-Vorbildern schauen: Gibt es Blogger oder Leute in Näh-Communitys, die eine ähnliche Figur haben wie man selbst? Ich falle ja gern auf Teile rein, die an flachbrüstigen Frauen großartig aussehen ...
  • Etwas Aufwand, kann aber helfen: Von Fotos die eigene Figur abzeichnen und das Wunsch-Kleidungsstück draufskizzieren. Dafür gibt es auch die App My Body Model (dort gibt man die eigenen Maße ein; man kann das Ganze kostenlos testen. Keine Werbung ;)).

Und ansonsten: Üben, üben, üben. Wie das halt so ist im Leben :D
Wer wissen will, was bei uns so alles schiefgeht, kann sich hier im Blog durchs Label Flops klicken!

Lg
Nria

1 Kommentar:

  1. Eine gute Aufzählung!
    Ich finde es besonders ärgerlich, wenn Schnittmusterdesigner geschönte Bilder verwenden. Was soll das? Ich meine, wird das wirklich so viel mehr verkauft, dass sich das rechnet? Ich glaube eher, dass es langfristig rentabler wäre, regelmäßige Kundschaft zu haben. Wir Näherinnen sind schließlich oft treue Tomaten :)
    Da fällt mir besonders die Anna Allen Helene Jeans ein...
    Aber auch mit selbst geht es so, das ich trotz besseren Wissens immer mal wieder den ein oder anderen Fehler mache. Auch besonders ärgerlich :(
    Grüße, Tina

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